Falra hányt borsó: Miku Sophie Kühmel novellája
NICHT DIE BOHNE
Vor einer Stunde habe ich meinen Kater beim Tierarzt abgegeben. Vor zwei Tagen hatte er aufgehört zu fressen, gestern Morgen war er nicht mehr auf die Fensterbank gesprungen, am Nachmittag hob die Schwester ihn aus der blauen Plastikbox und einer Kotzepfütze auf den Untersuchungstisch. Was sie herausschneiden müssen, sieht auf dem Bild, das sie mir gezeigt haben, aus wie eine sehr große Murmel oder eine sehr kleine Billardkugel. Und weil ich meinen Kater kenne, habe ich mehrfach nahegelegt, ob es nicht genau das sein könnte. Dass er irgendetwas in der Wohnung hinter einem Schrank oder unter dem Bett hervorgeholt und verschluckt hat, als ich nicht da war oder gerade nicht hingesehen habe. Das, meint die Schwester, würde erst mal jeder sagen, da spräche die Hoffnung, die aus der Liebe zum Tier entstünde und aus der Verliebtheit in eine sehr naive Idee von einem sehr naiven Wesen. „Von Ihrer Erbtante würden Sie das wohl kaum denken, dass ihr so was aus Versehen passiert, oder?“ Das ist nicht zynisch gemeint, das ist wahr und bohrt sich in meinen Hals wie der ausgestreckte Zeigefinger des Arztes in die Bauchhöhle des Katers. Für Notoperationen jedenfalls finden sie immer schnell einen Termin, schon am nächsten Tag, wenn man das nötige Kleingeld hat.
Wie ich mit dem Kater morgens in der Küche beim Kaffee stand, waren unsere nackten Füße, meine zwei und seine vier, ganz kalt. Jetzt festfrieren, hatte ich kurz gedacht, nicht losgehen. Nur sein ruhiges Blinzeln, der Anblick der schneeweißen Nickhaut, die sich ganz langsam in die Winkel der großen gelben Augen zurückzog, hatte es möglich gemacht, meine Schuhe zuzubinden und die U-Bahn-Fahrt mit der Transportkiste auf den Knien, Angesicht zu Angesicht, bis zur letzten Station durchzuhalten.
Ich hatte den Kater natürlich nicht geplant. Eine Freundin hatte ihn in einem viel zu frühen Stadium einer Liebelei in meine Wohnung getragen, in einem Karton für Milchtüten, sich darüber amüsiert, dass sie ihn darin gefunden hätte und dass er doch genau aussähe wie die auf die Außenseite der Pappe aufgedruckte Kuh. Ich hatte nicht gelacht, der Kater ebenso wenig, und ein paar Wochen danach waren wir zu zweit. Ich musste kaum eine Gewohnheit ändern, überließ ihm lediglich täglich ein paar Gramm Thunfisch. Er war kein besonders anhängliches Tier und ich kein Mensch, der gern störte. Meist schaute er stundenlang aus dem Fenster in den Innenhof und beobachtete Dinge, die ich niemals sehen konnte. Wenn ich lüftete, machte er einen Satz, verschwand kurz zwischen den Wurzeln des wuchtigen alten Baumes, die, schon an der Oberfläche dick wie ein Gewühl übergroßer Adern, vielleicht noch bis unter die Kellerräume des Hauses ragen mögen. Es dauerte nie länger als einen Augenblick, dann kehrte der Kater äußerst zufrieden zurück auf das Fensterbrett, um entweder dem Geschehen draußen oder drinnen zuzuschauen. Ich genoss es stets ein wenig, unter seiner Beobachtung zu stehen.
Ließ manchmal mit Absicht auf halbem Weg von der Dusche zum Kleiderschrank mein Handtuch fallen, nur, um aus dem Augenwinkel die verdrehten Ohren und erschrockenen Blicke zu sehen. Lange hielten diese Spielchen allerdings nie an, denn der Kater gewöhnte sich schnell und an vieles und war nach ein paar Monaten immer schwerer zu beeindrucken. Als Ela mich zum ersten Mal besuchte, war sie nach einer halben Stunde durchaus konsterniert, weil ich immer, wenn sie lachte oder gluckste oder hustete, gespannt hinüber zum Fensterbrett schielte. Frauen haben wir nicht oft da, doch mittlerweile interessiert es den Kater eigentlich auch nur, wenn sie wiederkommen. Wenn sie sich aber direkt am ersten Abend an seine Seite hocken, gar neben der Heizung niederknien, nur um ihn zu kraulen, und meine Fragen nur noch durch die Diagonale des Raums und aus dem Mundwinkel beantworten, dann lächelt er genüsslich zu mir herüber. Die interessiert sich nicht die Bohne für dich.
Als wir den Tierarzt heute Morgen in völliger Dunkelheit erreichten, war dieses Schauspiel natürlich aufs Höchste potenziert. In dieser Praxis recken sofort alle die Hälse, verdrehen die Köpfe, blinzeln gegen das flackernde Licht der Neonröhren, um einen Blick in das kleine Gitterfenster der Transportbox zu werfen, wer denn da kommt. Wer die Rechnungen bezahlt, will hier keiner wissen. Aufmerksamkeit und Mitgefühl für Herrchen gibt es erst, wenn man ohne Box unterm Arm den Raum erneut durchquert und durch die klingelnde Tür hinaus in die Kälte verschwindet, ohne auf die anderen Katzen und Hunde und Meerschweinchen zurückzuschauen.
Wenn es vorbei ist, rufen sie mich an. Solange sitze ich am Schreibtisch und schaue auf die weiße Wand, an die weiße Decke, auf das weiße Papier. In der Nase hängt noch der Geruch nach Linoleum und feuchtem Bernhardiner. Nach ein paar Minuten lege ich das große Lineal aus Buchenholz, immer noch rau in meiner Hand, an das Blatt und setze den Bleistift auf. Ich ziehe die Linie und denke über den geraden Schnitt im Bauch meines Katers nach, stelle mir vor, wie er aufgeklappt wird, wie der Arzt alle Organe durchzählt und dann irgendwo im Bauch die kleine Kugel, den Kern ausfindig macht. Er ist kein dickes, pulsierendes Geschwür, kein vergammelter Klumpen Fleisch, er ist eine Kugel wie aus Marmor, weiß und glatt. Er sieht fast harmlos aus. Wenn dieser Kern noch nicht aufgeplatzt ist, der Samen noch keine Keime getrieben, keine Wurzeln geschlagen hat, dann kann man ihn entfernen, den Kater zutackern und ihn mir zurückgeben.
Der Bleistiftstrich auf dem Blatt ist krumm und schief geraten. Ich lege Lineal und Stift parallel zueinander vor mich hin, stütze mich auf meine Unterarme und schaue quer durch den Raum in den Innenhof, der von einem Schleier Raureif überzogen ist und im ersten Tageslicht glitzert wie von gemahlenem Glas bedeckt. Der einzige helle Fleck in meiner dunklen Erdgeschosswohnung ist die leere Stelle auf dem Fensterbrett.
Vorherige Teile unserer Reihe findet man hier (das Gedicht von Carla Hegerl), hier (das Romanfragment von Valentin Moritz), und hier (die Gedichte von Mischa Mangel).
Miku Sophie KÜHMEL (*1992) im Wald (Thüringen), 2010 zum Studieren in die große Stadt (Berlin) gegangen. Liest, schreibt und spricht, manchmal auch in der Öffentlichkeit. Publizierte bisher im Carl Hanser Verlag, dem Chili Verlag, in Literaturzeitschriften (Das Narr, mosaik, JENNY, Nocthene) und den Salzburger Nachrichten.
ANDRÁS Orsolya (*1991) Sathmar / Satu Mare / Szatmárnémeti. Alles: Schwester, Blätter, Igel. Nichts: Paul, See, Fericiriistraße.