Ötvennyolcmillió disznót – Jannis Poptradov verse
„ACHTUNDFÜNFZIG MILLIONEN SCHWEINE
werden jährlich in Deutschland
geschlachtet“, sagt er.
„Europarekord.“
„Ja?“, sage ich.
„Ja“, sagt er.
Wir sitzen in der
Vorhölle namens
Ess-Station. Irgendwo
im sechsten oder
siebten Hinterhof.
Ab 4:00 Uhr gibt es
hier Hackfleischbrötchen
mit Majo
und Eiersalat oder
wahlweise
XXL Buletten.
Die Plastikstühle
sind hart und die
Tapete war früher
mal weiß, jetzt ist
sie gelbgrau und an
manchen Stellen bricht
Unkraut durch.
Tayfun zupft an seiner
Kappa-Trainingsjacke
und fragt, ob ich Gras
benötige und ich sage:
„Danke, nein.“
„Fünfundsechzig Kilo
Fleisch isst der Deutsche
im Jahr“, sagt er.
„Muss kurz was erledigen“, sage ich.
Ich laufe zur Theke und bestelle
Kaffe zum Mitnehmen.
„Macht fünfzig Cent“, sagt die
Dicke hinter der Theke.
„Ich habe meinen eigenen Becher
dabei“, sage ich. „Also zahle ich
nur dreißig Cent.“
„Zum Mitnehmen macht fünfzig Cent.“
„Ja, aber zum Hiertrinken dreißig.“
„Zum Mitnehmen macht fünfzig Cent.“
„Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass
sich die Mehrkosten in Höhe von zwanzig Cent
durch das Bereitstellen eines Pappbechers
erklären, was sich, und das müssen Sie wohl
zweifelsohne zugeben, in meinem Fall erübrigt.“
„Claudi – der hier hat seinen eigenen Becher
dabei!“
„Nee – dit jeht nicht“, brüllt Claudi von hinten.
„Kann er sich gleich abschminken. Wenn sich
dit rumspricht, kommt hier jeder mit ‘nem
eigenen Becher anjedackelt.“
„Gut, dann geben Sie mir einen Kaffee
zum Hiertrinken.“
„Macht dreißig Cent.“
Die Dicke werkelt an der Fünfhundert-
Liter-Kanne und schwups schon
knallt sie die Tasse auf die Theke.
Ich schlendere zurück in den
Raucherraum.
Tayfun drückt seine qualmende
Zigarette auf dem Plastiktisch
aus.
„Sicher?“, sagt er.
„Was?“
„Dass du kein Gras rauchst?“
Ein Boxer läuft vorbei, er
mustert die anwesenden
Kanaken und setzt sich in
die hintere Ecke.
„Nazi-Sohn“, sagt Tayfun.
„Elektriker. Schon seit Ewigkeiten
in der Maßnahme.“
Im Raucherraum sind jetzt
sämtliche Stühle besetzt, es
ist eng und verqualmt und
es gibt keine Fenster, die
Gesichter werden täglich
bleicher und bleicher und
manchmal landet eine
vertrocknete Kakerlake in
der XXL-Bulette, macht nix,
sagen die arbeitslosen
Maurer und Müllkutscher
und Estrichleger, Kakerlaken
enthalten jede Menge
Proteine und außerdem
knackt es so schön beim
Kauen, im dritten Hinterhof
rammte letztens eine
Krähe ihren Schnabel in
die Augen einer zuckenden
Ratte, einige dieser traurigen
Clowns warfen Steine
nach der Krähe und alle
lachten und noch mehr
Steine wurden geworfen
und dann setzten sie sich
in den Rauch, zu ihrer
Bohnensuppe und ihren
Salamibrötchen und
sie bestellten hustend
Grützwurst und plötzlich
stand John Stymer an der Tür
und Johnny Boy flüsterte
mir etwas aus seinem
Nexus-Monolog ins Ohr.
Ist es nicht offenbar, dass unsere
ganze Lebensweise eine Hingabe
an den Tod ist?
Ich blicke zur Tür.
Nein. Heute steht er nicht dort.
Hat wohl was Besseres zu tun.
Vielleicht Tee trinken mit
Henry Miller. Oder Angeln.
„Ich habe dem ganzen Winter über
Schnee geschippt“, sagt Tayfun.
„Vier Monate lang. Als ich zum Büro
der Firma gehe, um mein Geld zu
holen, ist das Büro nicht mehr da.
Nur ein leerer Raum. Ich arbeite nie
mehr wieder für einen Türken.“
Ich kippe den Kaffee in meinen
Becher.
„Stimmt es, dass du gefeuert
wurdest, weil du deinen Chef
nicht gegrüßt hast?“, sagt er.
„Ja.“
„Wo war das?“
Ich nenne den Namen der
Firma und eine Stimme sagt: Okay,
Frühstückspause ist zu Ende,
und wir laufen zurück
zum Bewerbungstraining, dieser
Windows-98-Farce, durch sechs
oder sieben Hinterhöfe, wir,
die Armee der Arbeitslosen,
die Brigade des Niedergangs
westlich zivilisierter Zustände,
die Randnotiz des boomenden
Kapitals und stündlich tauchen
neue Gesichter auf und der
Debütroman von Vea Kaiser
spielt in einem Bergdorf oben
in den Alpen, das Zicklein
ist spurlos verschwunden
und die Bewohner des Dorfes
machen sich große Sorgen und
Vea Kaiser wird von Giovanni di
Lorenzo hofiert, Vea Kaiser wird
von Denis Scheck gelobt, Vea Kaiser
sitzt bei Marcus Lanz und sagt:
Die drei Dinge, die mich richtig
glücklich machen, sind Stöckelschuhe,
Fußball und Altgriechisch, und ich hebe
einen Stein auf und suche die verfluchte
Krähe, aber sie ist nirgends zu sehen.
Vorherige Teile unserer Reihe findet man hier (das Gedicht von Carla Hegerl), hier (das Romanfragment von Valentin Moritz), hier (die Gedichte von Mischa Mangel), hier (die Kurzprosa von Miku Sophie Kühmel) und hier (das Gedicht von Martin Piekar).
Jannis POPTRANDOV (*1974) in Berlin (West), regelmäßige Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,zuletzt erschienen Η Ευρώπη μυρίζει τελειότητα (Europa riecht nach Vollkommenheit), Teflon, Athen 2016, lebt und arbeitet in Berlin.
ERDŐS Katalin (*1994) in Neumarkt am Mieresch / Tîrgu Mureș / Marosvásárhely nach einem pädagogischen Lyzeum jetzt lernt sie ungarische und deutsche Sprache und Literatur in Klausenburg / Cluj-Napoca / Kolozsvár. Kaffeelust, Theater jederzeit.
SÁRKÁNY Tímea (*1995) Tîrgu Secuiesc / Kézdivásárhely, Frau, scheibt, lest in Klausenburg/ Cluj-Napoca / Kolozsvár; Absolventin des Fachs ungarische Sprache und Literatur – Komparatistik.