Az utolsó kopogtatás (szentimentális történet): Rudolf Nuss novellája
Das letzte Klopfen
(eine sentimentale Geschichte)
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Die Stadt ist voll und dunkel; einzig und allein die weiße Oberfläche des Archivs von Astraxan scheint beleuchtet zu sein. In den unendlichen Gängen des kilometertiefen Archivs – welches von allen nur Das Gedächtnis genannt wird – stopft ein Tierpräparator ein Dodoreplikat aus. Jahrelang hatte er (namens Lamett) sich Taxon für Taxon einverleibt, jeden Artenbaum, Abzweigung für Abzweigung auswendig gelernt, drei Vogelarten entdeckte er, und jetzt näht er tote Vogelärsche zu. Lamett kann sich nicht genau erinnern, wie er in den Archiven gelandet ist, doch kann er sich immer wieder für die präparierten Kadaver begeistern, gefiederte Momente der Ordnung. Mit einem leichten Lächeln betrachtet er den Dodo, den er formvollendet und gut beleuchtet in eine Vitrine positioniert. Das Archivieren ist ein unaufhörlicher Prozess und eine ehrenvolle Aufgabe.
Anstatt in die Kantine zu gehen, setzt Lamett sich gerne zwischen die halb-synthetisierten Lavendelbouquets und die Vogelpräparate seiner Archiv-Gärten und streichelt seine speziellpräparierte Beruhigungsmango vom Typ Blossom_5.
Niemand hätte geglaubt, wie einfach die Lösung war: Die Mangorepliken waren ein Durchbruch für die Obstindustrie, ein Verlust für die Pharmaindustrie. Ihre Form und Oberflächenbeschaffenheit haben eine vollkommen beruhigende Wirkung auf jeden, vor allem auf jeden mit Angststörungen. Es schossen Läden aus dem Erdboden, die Mangos in verschiedensten Farben und Größen verkauften, auch individualisierbar, mit niedlichen Zeichnungen von Tieren oder sonstigen Kreaturen, aber immer mit dem originalen Aufkleber und dem Slogan [pet away the stress]. Das Streicheln der Mango ist wie ein Null-Punkt der Psyche.
Lamett betrachtet seinen Dodo. Gerne wäre er auch gefiedert, fett, ungelenk und von
einer höheren Spezies ausgestopft und exponiert worden. Das Leben wäre so einfach.
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Irgendwo und irgendwann erwacht Basilé, die einzige Überlebende der Kryostase, nach Jahrhunderten in einer der letzten Salve_Regina-Einheiten, die kurz vor der totalen Verseuchung der Erde in den Kosmos entsandt wurden, in der Hoffnung die Raumschiffe könnten das Genom der Menschheit retten. Ihre Mission ist das Finden des Nexus, der absoluten Verbindung von allem Leben im Kosmos, um dort die Gensegmente einzuspeisen und die Menschheit unsterblich zu machen, denn nur dort können Informationen auf ewig gespeichert werden – ohne Verfall und Tod.
Die restliche Besatzung wurde durch einen KI-Fehler in den Kryokapseln aufgelöst; ein rosa Schaum tritt aus den Rillen ihrer Kammern und schwebt durch das Schlafquartier; Basilé kannte die andere Besatzung nicht, hofft aber, sie hatten noch schöne Träume gehabt. Einsam tastet sich Basilé durch die Gänge des kugelförmigen Schiffs. In Fächern findet sie Konserven mit konzentriertem Bohnenpüree und Invertzuckercreme. Nur etwas zu Trinken findet sie nicht. Von Schaum umhüllt isst sie beides und starrt durch die Glaskuppel in die unendlichen Weiten des Kosmos.
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Als Lamett beim Streicheln der Mango eine raue Stelle betastet, fällt ihm auf, dass er schon sehr lange nicht mehr in der Kantine war. Oder außerhalb seiner Gärten. Er entschließt, hinaus zu gehen.
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Lamett hat sich schon vor Wochen im Archiv verlaufen; er kann sich kaum erinnern, weswegen er all diese Vögel präpariert hat, die ihn zu Tausenden zwischen dem Lavendel anstarren. Mit ängstlichem Blick läuft er durch die unendlichen Weiten der Gärten bis er an einen kathedralenartigen Bau tritt, von Flora durchdrungen und eingewachsen.
Im Bau stehen Bücherregale und verstaubte Computerterminals. Eine Person in einem Rollstuhl nähert sich Lamett und stellt sich als Anipole vor. Sie trägt eine Augenklappe, die ihr linkes Auge verdeckt. Für Lamett sieht sie sehr alt aus.
Anipole erzählt Lamett von ihrer Arbeit im Archiv, sie erzählt ihm von dem paraguayischen Kompositeur Agustín Barrios Mangoré, einer der ersten großen Gitarrenlegenden Südamerikas mit einem wahrlich imposanten Schnauzbart, einem Virtuosen, der zum Mythos wurde. Aufgeregt zeigt sie ihm ein Foto von ihm: »Siehst du wie edel der Herr Barrios ausschaut?«
Sie erzählt Lamett auch von ihrem Lieblingsstück, seinem finalen.
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»In einer stürmischen Nacht 1944, voller Donner und peitschender Zweige, hörte Agustín Barrios Mangoré ein Klopfen an der Tür. Er unterbrach sein Spiel, legte die Gitarre zur Seite und lauschte angestrengt – es dauerte nicht lange, da hörte er wieder das Klopfen. In großen Abständen, aber mit großer Entschlusskraft schlug dort jemand an die Tür. Das Klopfen hallte durch Barrios Anwesen und das Erdreich – ein Klang astraler Ausbreitungsweite. Barrios war aus für ihn nicht fassbaren Gründen starr vor Schreck an seinen Sessel gebunden und es klopfte immer wieder, für mehrere Minuten. Doch das Klopfen brach so plötzlich ab, wie es erschien, und in der Ferne war wieder das Gewitter zu vernehmen. Am nächsten Tag fand man eine alte, obdachlose Frau tot vor seinem Anwesen auf.
Er sagte sich, er würde das Klopfen der alten Frau festhalten, er würde es in einem Stück einfangen, es dort hörbar machen für jeden Menschen. In der Zeit darauf schrieb er das Stück El Ultimo Tremolo, ›das letzte Beben‹. Es blieb sein letztes Stück, wenig später verstarb auch er. Seitdem hallt das Klopfen dieser alten Frau in jedem Gitarrenkorpus, über dessen Saiten die Noten von El Ultimo Tremolo angeschlagen werden.«
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Die rosa-farbenden Überreste der Besatzung bilden nun eine Kruste auf Basilés Pyjama und die Lampen im gesamten Schiffsraum flimmern subtil, schmerzen in Basilés Augen.
Es verging viel Zeit, auch wenn Basilé jegliches Zeitempfinden verliert. Meist lässt sie
sich mit geschlossenen Augen durch die Räume treiben. Die wenigen Wassertropfen, die ab und zu aus der Duschkabine schweben, und das Bohnenpüree reichen gerade aus um zu überleben, aber Basilé hat unglaublichen Durst. Sie wühlt sich durch alle Regale an Bord und findet einige technische Apparaturen und auch ein Paket mit Mangos, deren Form sie aus unerfindlichen Gründen beruhigt. Und sie findet eine gesicherte Box auf der vermerkt ist:
[2500 Variationen menschl. Gensequenz]
Basilé öffnet die Box und betrachtet Dutzende Ampullen mit zart blauer Flüssigkeit. Sie nimmt eine heraus und wiegt sie in ihren Händen. Nach einiger Überlegung öffnet sie sie und trinkt den Inhalt. Es dauert nicht lange und Basilé hat das gesamte Genom getrunken.
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Lamett sitzt neben Anipole auf der Erde und hört ihr gut zu; sie erzählt von all den Fotos, die sie in den Bücherregalen gefunden hat.
»Ich wusste nicht mehr, was ich erforschen könnte, gefangen hier unten.« Sie zeigt nach oben, an die Decke der Kathedrale, wo sich der Ausgang befindet. »Also habe ich alle Fotos hier unten analysiert, versucht, die kleinsten Details auszumachen.« Lamett blickt auf die verstuckten Wände der Kathedrale. Sie ist vollgeklebt mit alten Fotografien von Menschen mit geschlossenen Augen. »Ich hatte bald ein Fable für Post-mortem-Fotografien. Es sind wunderschöne Bilder, die Familien überwiegend im 19. Jhd. von ihren Liebsten gemacht haben, nachdem diese verstorben waren.«
Lamett streichelt seine Mango und sieht ein Foto von einer Frau – mit ihrem toten Kind in den Händen. »In der Ecke da hängen viele Kinder. Du erkennst, dass auf diesen Fotos viele noch lebende Mütter mit dem Leichnam ihrer Kinder posieren. Du musst dir vorstellen, dein Kind, von dem du noch nichts festgehalten hast, stirbt, und die letzte Gelegenheit – bevor sein Leichnam verwest –, das Kind unvergessen zu machen, ist so ein Foto.«
»Wie lange«, fragt Lamett schließlich, »bist du schon hier unten? Hast du … eigentlich Kontakt nach draußen?«
Anipole legt ihre Hand auf Lametts Schulter und sagt: »Weißt du nicht, was passiert ist? Weißt du nicht, weswegen wir hier unten hocken?« Lamett schüttelt den Kopf.
»Weißt du wirklich gar nichts mehr? Die Welt dort draußen stirbt, Lamett, Gewässer voller Eisen, rostende Bäume und vom Himmel fallendes Blech. Aber natürlich, weißt du es nicht. Sieh dich doch nur an, Lamett … du hast dich vollkommen in diesen Vögeln verloren – siehst du nicht, wie sinnlos das alles hier ist? Warum machst du das überhaupt? Und immer diese Scheißmango! « Anipole reißt Lamett Blossom_5 aus den Händen und schmeißt sie hinter sich, wo sie an einem Computerterminal zerbirst.
Lamett blickt knapp an Anipole vorbei, irgendwo hinter ihr fällt Stuckatur von den Innenwänden. Lamett steht auf und verlässt die Kathedrale, Anipole sieht ihm nach und schreit etwas hinterher, er kann es aber nicht mehr hören.
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Die Salve_Regina-Einheit rotiert geisterhaft in unendlichen Weiten. Sie wird von der Gravitation eines Doppelsystems erfasst; es ist ein Violetter Riese und eine vollkommen schwarze Kugel, mindestens so groß wie der Stern, die beide um ihren Massenschwerpunkt kreisen.
Durch die Glaskuppel des Schiffs sieht Basilé, wie die schwarze Kugel den Violetten Riesen überlagert. Und im von violetten Strahlen umrahmten Schwarz sieht sie auch ihn: Es ist der Nexus. Der Punkt, von dem aus das Universum sich entfaltete, aber nicht gleichmäßig entfaltet, wie ein Stückchen Papier, sondern unendlich komplex. So sieht Basilé in dem Schwarz, befreit von den Membranen ihrer Wahrnehmung, die Verknüpfung allen Lebens, eine organische Maschinerie von Verklumpung, Pfropfenbildung und Ausflüssen.
Die ständige Imperfektion jedes Körpers, sich ständig unterbrechend, zitternd, wahllos. Basilé hört ihren eigenen Herzschlag, immer lauter und lauter bis nach dem lautesten Klopfen eine vollkommene Stille einkehrt.
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Das Schiff nähert sich der Kugel und ist bald nicht mehr zu sehen.
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Wieder in seinen Gärten angekommen, klebt Lamett kleine Plastikbeine an Äste. Er erwischt sich bei der Vorstellung, die Tierpräparate zu einem gigantischen Klumpen aus Vogelkadavern zu verarbeiten, einer Kugel aus Federn und tausend Augen, Schnäbeln die aus den entlegensten Winkeln herausfahren, auf meterhohen Knochenstelzen fixiert.
Aber Lamett klebt die Beinchen ordentlich auf die Äste und dann den Rhombus und dann den Rest. Vogel für Vogel, fest in Raum und Zeit, so wie es sein sollte.
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Draußen weit von Astraxan entfernt fährt ein Fischer aufs Meer.
Montiert an seinem Boot: ein Schrottplatzmagnet.
Einen Hebel legt er um und die Fische schnellen wie Pfeile
aus dem Wasser und klatschen
an die rostige, runde Oberfläche.
Vorherige Teile unserer Reihe findet man hier (das Gedicht von Carla Hegerl), hier (das Romanfragment von Valentin Moritz), hier (die Gedichte von Mischa Mangel), hier (die Kurzprosa von Miku Sophie Kühmel) hier (das Gedicht von Martin Piekar), hier (das Gedicht von Jannis Poptrandov) hier (die Kurzprosa von Saskia Trebing) und hier (das Gedicht von Alke Stachler).
Rudolf (Rudi) NUSS (*1994, Berlin) lebt noch immer dort und studiert Vergleichende Literaturwissenschaften, davor Germanistik und Philosophie in Potsdam. Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Zeitschriften. 2016 wurde er beim 24. Open Mike mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet. Seine Familie lebte den Großteil ihres Lebens an einem der größten und schönsten Atomkraftwerke Russlands.
KOCSIS József (*1992, Szombathely) studiert an der budapester Eötvös Loránd Universität Hungarologie und Germanistik (Lehramt).
NYÉKI Gábor (*1991, Berettyóújfalu) studiert an der budapester Eötvös Loránd Universität Hungarologie und Germanistik (Lehramt).